Eine Cyborg-Weihnachtsgeschichte

Hätte ich diesen Post vor zwei oder drei Tagen geschrieben, wäre es mit guter Chance eine der vielen generischen Weihnachtsgrüße geworden, die wir alle zu dutzenden oder gar hunderten dieser Tage ertragen müssen. So aber hatte ich Gelegenheit, mich an den Gesprächen meiner erlauchten Verwandtschaft zu laben und alles über ihre neu oder gebraucht erworbenen Gebrechen zu erfahren.

Gut, ich weiß genug über Suspense-Stilmittel, um zu wissen, dass ich langsam auf den Punkt kommen sollte und erklären muss, was meine Verwandtschaft mit Cyborgs zu tun hat und warum Du das lesen solltest. Na schön, ich sag’s Dir: Die meisten von Ihnen sind Cyborgs.

Sollte ich wohl erklären. Mit mittelmäßiger Belesenheit in Science-Fiction-Kultur ist die erste (oder zweite) Assoziation zu dem Thema vermutlich Robocop und/oder Terminator, aber sicher nicht Lieschen Müller. (Disclaimer: Meine Großmütter heißen beide nicht Lieschen Müller und selbstverständlich sind sämtliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig…)

Worauf will ich also mit diesem scheinbar reichlich konstruierten Zusammenhang hinaus?

Wir begeben uns für einen Moment auf das Gebiet der Pseudo-Wissenschaft namens Technologie-Ethik und suchen auf Wikipedia die Definition von „Cyborg“ heraus. Da heißt es:

„Zumeist werden damit Menschen beschrieben, deren Körper dauerhaft durch künstliche Bauteile ergänzt werden.“

Es gibt dann sogenannte starke (künstliche Bauteile untrennbar mit dem Körper verbunden) und schwache (Modifikation entfernbar) Auslegungen der Definition.

Während der Cyborg im engeren Sinne sicherlich eher auf Terminator-ähnliche Konzepte hinausläuft, gibt es auch in der nicht-fiktionalen, ganz und gar buchstäblichen Gegenwart reichlich Beispiele – zum Beispiel eben in meiner ziemlich durchschnittlichen Familie. Zurück an die Weihnachtstafel also: Da sitzt der Großvater mit Herzschrittmacher, die Großmutter mit Hörgeräten so winzig, dass selbst Normalsichtige eine Lupe brauchen, um die Batterie zu wechseln oder die Tante mit künstlicher Augenlinse, die nach der kaum überteuerten Laser-OP besser sehen kann, als jemals zuvor. (Sicherheitshalber noch einmal: Sämtliche Ähnlichkeiten vollkommen zufällig. Ehrlich.)

Mit anderen Worten: Wenn Du über 50 bist, ist die Chance gut, dass auch Du ein Cyborg bist, denn all‘ die beschriebenen Hilfsmittel erfüllen im Grunde genommen obige Definition von „Cyborg“.

Ich sitze also in der hypertechnisierten Verwandtschaft, vergewissere mich leicht zittrig meiner körperlichen Unversehrheit und begteife nur langsam, doch dann schockiert: Auch ich bin ein Cyborg. Nein, ich meine nicht das omnipräsente Smartphone, das in meiner Generation gewiss ebenso als permanente Erweiterung des menschlichen Körpers angesehen werden kann, sondern mein Zahnimplantat, das bereits mehr als zehn Jahre lang einen genetisch nicht angelegten Eckzahn ersetzt. Gut, es ist nicht elektrisch aktiv, blinkend und durchleuchtet meine Umwelt mit Röntgenstrahlen oder Laser-Abtastung, aber es erfüllt die Definition: Künstlich und permanent. Es ersetzt einen Zahn, der sonst nicht da gewesen wäre.

Mehr noch, es illustriert auf ebenso erschreckende wie entlarvende Weise, wie weit der technologische Fortschritt bis in unsere Körper vordringt:

  • Wenn Du einen Titan-Nagel in einem Knochen hast, weil ein Splitterbruch sonst nicht verhält wäre, bist Du ein Cyborg.
  • Wenn Du einen Herzschrittmacher hast oder eine küstliche Herzklappe oder irgendetwas anderes, das Deinen Kreislauf in Gang hält, bist Du ein Cyborg.
  • Wenn Du ein Hörgerät, eine künstliche Augen-Linse wegen des grauen Stars, ja selbst eine Brille hast, bist Du ein Cyborg.
  • Wenn Du Insulin spritzt, weil Du einen Diabetes hast, dann ersetzt die Insulinspritze die fehlfunktionierende Bauchspeicheldrüse, kurz, dann bist Du ein Cyborg.
  • Wenn Du ein subdermales Implantat zur Empfängnisverhütung verwendest, z.B. ein Stäbchen im Arm, das über bis zu zwölf Monate lang Schwangerschaftshormone kontrolliert abgeben kann, dann bist Du ein Cyborg.

Und dabei kommst Du wahrscheinlich nicht um die Frage herum, was so schlimm daran sein soll, dass wir alle längst Cyborgs geworden sind.

Tja, vielleicht gar nichts. Doch andererseits steht bei dem Begriff an sich eben immer die Assoziation der kaltblütigen Killermaschine im Hinterkopf, was mich noch einmal zurück zu meiner Waihnachtstafel bringt. Für jeden einzelnen Menschen, dem Technologie dabei helfen kann, ein normales Leben zu führen, das Gebrechen, Unglück oder, ja, Unvermögen verleiden würden, ist der Fortschritt der Technik wünschenswert und ohne Zweifel eine beispielslose Gnade und niemand würde ernsthaft daran denken, den Großvater mit Herzschrittmacher mit einer kaltblütigen Killermaschine gleichsetzen zu wollen – nicht einmal ich würde das in Erwägung ziehen.

Und doch ist dabei die Frage stets, wo die Grenze liegt zwischen dem, was wir wollen und dem, was, ganz plastisch, zu weit geht.

Ist das der Fall wenn die Armprothese kräftiger ist, als es ein Mensch jemals sein könnte?
Wenn die künstlichen Gelenke besser funktionieren als echte?
Wenn ein künstliches Herz eines Tages mehr Blut pumpen kann, als ein biologisches es könnte?

Nach allen praktischen Maßstäben ist mein Zahnimplantat dem echten Zahn überlegen: Die Keramik ist tatsächlich härter als Zahnschmelz, die Titanfassung ist robuster als eine biologische Wurzel (und spezifiziert für bis zu 10-fache Erdbeschleunigung, ein Punkt an dem alle anderen Zähne ihre Positionen längst verlassen haben…) Nach allem, was die medizinische Forschung weiß, ist es außerdem gut darin, Wurzelkanalentzündungen vorzubeugen, denn der künstliche Zahn hat ja gar keine Wurzel. Wenn das kein Upgrade ist, dann weiß ich’s auch nicht.

Die Moral dieser etwas bemüht begonnenen Weihnachtsgeschichte also ist dabei also:

Cyborgs sind längst da. Überall.

Es wird keinen Weg geben, eine Welt ohne Cyborgs zurück zu bekommen und was alle medizinischen Anwendungen angeht ist das auch gut so.

Dennoch wird sich eher früher als später die Frage stellen, auf welche Art und Weise wir Leistungsfähigkeit und Verhältnismäßigkeit sicherstellen und reglementieren wollen – und dabei sprechen wir zu keinem Zeitpunkt überhaupt über Dinge wie effektive Integration von Informationstechnologie in unsere Sinne und Nervenbahnen oder gar die Nutzung von genetischen Modifikationen am lebenden Objekt.

So oder so: Wir sehen uns in der Zukunft. Und hab‘ Acht auf Lieschen Müller. Wir wissen nicht genau, was dieses neue Hüftgelenk alles kann.

Frohes Fest wünscht
F.W.G. Transchel

ps: Wenn Du Dich persönlich diffamiert fühlst und findest, dass Brille oder Hörgerät noch keine Killermaschine aus Dir machen oder anderweitig darüber diskutieren möchtest, schreib‘ einen Kommentar unter diesen Artikel.

Quelle des Beitragsbildes: Depositphotos

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